
Okklusion und Digital: Die Funktion von Kiefer und Zähnen noch besser erfassen
Digitale Prozesse revolutionieren die Zahnmedizin. Sie eröffnen Zahnärzten und Zahntechnikern neue Möglichkeiten. Ein Beispiel ist die genaue Analyse der Okklusion durch digitale Visualisierung in Echtzeit. Zudem bringt die Digitalisierung Bereiche zusammen, die bislang eher wenig miteinander zu tun hatten. Die Zahnmedizin wird dadurch auch für Mathematiker und Informatiker wie Dr. Sebastian Ruge aus Greifswald (Deutschland) interessant. Ein Porträt.
Dass er einmal in der Zahnmedizin landen würde, hätte sich Dr. Sebastian Ruge wohl nie träumen lassen. Seine Leidenschaft galt schon früh der Mathematik und der Informatik – zwei Fächern, die er in Greifswald im Nordosten Deutschlands studierte. Zur Zahnmedizin fand Ruge erst während des Studiums. „Professor Dr. Bernd Kordass, ein Spezialist der dentalen Okklusion und ein Pionier der digitalen Funktionsdiagnostik in der Zahnmedizin, suchte einen Mitarbeiter für Grafik und Visualisierung“, erzählt Dr. Ruge. Man schrieb das Jahr 2006. „Dass man Modelle scannen konnte, war damals noch ein neues Thema. Im Vordergrund stand dabei vor allem die Frage, wie präzise Modell-Scans sind.“
Scans in Bewegung sehen
Professor Kordass war damals schon weiter: „Er wollte die Scans in Bewegung sehen. Für mich war das ein neues Feld. Die Herausforderung lautete konkret, mit den Methoden der Informatik hier ein Verfahren zu entwickeln. Mit klassischer Zahnmedizin hatte das zunächst einmal wenig zu tun.“
Nicht der erste Informatiker in der Dentalwelt
Dr. Ruge war nicht der Erste, der als Informatiker bei Professor Kordass unterkam. Zunächst schaute er sich dort an, wie es mit den Kiefermodellen und mit den Tests lief. „So fand ich mich nach und nach in das Thema hinein. Zum Glück war dort Platz für neue Ideen, für neue Impulse. Ich konnte mein Know-how einbringen.“
Sektion „Dentale Informatik“
Plötzlich ging alles ganz schnell. Sebastian Ruge absolvierte nebenher ein zahnmedizinisches Praktikum. In seiner Diplomarbeit beschäftigte er sich mit visuellen Artikulatoren, dem Fokusthema seines Chefs. Irgendwann steckte der junge Mann mittendrin in der Dentalwelt und im Thema Okklusion. „Dentale Informatik“ heisst die Sektion an der Uni, in welcher er tätig ist.
Mathematiker für Zähne begeistern
„Mathematiker haben die Neigung, zu analysieren und logisch zu strukturieren“, beschreibt Dr. Ruge die Hauptstärke seiner Zunft. Heute ist es sein Ziel, weitere Kollegen für Zähne und Zahnmedizin zu begeistern – auch wenn Dr. Ruge zugeben muss, dass diese Kombination etwas exotisch anmuten mag. „Eine Verbindung meiner Qualifikation zu anderen Branchen wie etwa zur Automobilbranche liegt auf den ersten Blick wesentlich näher. An Zahnmedizin denkt man da eher weniger.“
Okklusion trifft Digitalwelt
Wie müssen wir uns Dr. Ruges Arbeit konkret vorstellen? Promoviert hat er mit der Entwicklung einer Software, die den realen Unterkiefer in seinen Bewegungen digital darstellt. Dazu wird ein Kopplungslöffel mit angefügtem Sensor verwendet. Mit ihm sind Bewegungen und Belastungen des Kiefers in Echtzeit darstellbar; das okklusale Interface wird optimal abgebildet. Der Betrachter kann sehen, wo Kontakte stattfinden und welche Stellen wie starken Belastungen ausgesetzt werden. Okklusion trifft Digitalisierung.
Computerspiele: Yoga für den Unterkiefer
Darüber hinaus hat Dr. Ruge Computerspiele entwickelt, mit denen sich die Koordination der Kieferbewegungen trainieren lässt. „Anfangs war das ein Abfallprodukt“, gibt er zu. „Aber dann habe ich mich ernsthaft damit auseinandergesetzt.“ Entstanden ist beispielsweise ein Tischtennisspiel mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Schwierigkeitsgraden. Manövriert wird nicht per Joystick, sondern mit dem Unterkiefer. Ziel ist das spielerische Selbsttraining, bei dem Patienten ihre Kieferbewegungen trainieren und erweitern können, um dadurch Verspannungen, Beschwerden am Kiefergelenk sowie Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit und sonstigen Okklusionsstörungen entgegenzuwirken. Die Bewegungsabläufe werden ökonomisiert, die Okklusion wird verbessert. Wer seinen Unterkiefer so trainiert, macht ihn dehnbarer. „Das ist ein bisschen wie Yoga“, erklärt Dr. Ruge. Ein weiterer Vorteil: Die Spiele messen alle Bewegungen, und der Erfolg lässt sich dokumentieren und qualifizieren.
Immer weitere Informationsquellen nutzen
Noch gibt es manches zu verbessern. Virtuelle Artikulatoren können Dr. Ruge zufolge bislang nicht mit mechanischen Artikulatoren mithalten, da sie noch nicht alle Bewegungen abbilden können. Das soll sich ändern. Immerhin bleibt die Entwicklung nicht stehen. Schon seit einigen Jahren ist die Elektromyographie (EMG) in der Entwicklung. Mit ihr wird die Aktivität der Muskeln gemessen. Auch gibt es Bestrebungen, irgendwann in die Zähne virtuell hineinschauen zu können, ihre Materialstruktur zu beobachten, wenn sie kauen oder beissen. „Wir wollen immer mehr Informationsquellen nutzen, um die Okklusion von Unterkiefer und Zähnen so genau wie möglich zu erfassen, zu messen und zu verstehen“, sagt Dr. Ruge.
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Anschauliche Live-Demos
Spannend gestalten sich Präsentationen und Vorträge, bei denen Dr. Ruge und Professor Kordass anschaulich vorführen, wie sie die Okklusion messen und auswerten. Es wirkt fast ein wenig beängstigend, wenn sie zwecks Live-Demo den Kopfbogen und das Unterteil mit dem selbst entwickelten Unterkiefer-Sensor des JawMotion Analyzers der Firma Zebris (Deutschland) an ihren Köpfen befestigen. Durch Ultraschall-Laufzeiten wird so die Lage des Unterkiefers gemessen, vergleichbar mit einem Navigationssystem wie GPS. Signale erfassen, in welcher Position sich der Unterkiefer gerade befindet. Die gemessenen Daten werden an einen Computer übermittelt und auf einem Bildschirm in Echtzeit visualisiert. Ergänzend kommen die Scan-Daten von Ober- und Unterkiefer hinzu. Bei Bedarf lässt sich sogar ein virtuelles Kaugut – zum Beispiel ein Gummibärchen – hinzufügen, um alles noch realistischer abzubilden. Dies immer zu dem einen Zweck, ein möglichst genaues Bild zu erhalten: Wie spielen die Zähne zusammen? Wie arbeitet der Unterkiefer? Wie verhalten sich die Muskeln? „Auf diese Weise entwickeln und präsentieren wir Prototypen und versuchen, Hersteller dafür zu begeistern und Partner zu finden“, ergänzt der Experte.
Legende Video-Animation: Mit einer Software die Kieferbewegungen analysieren
Digitale Vision
Für die dentale Zukunft hat Dr. Ruge grosse Hoffnungen und eine klare Vision entwickelt: „Die Zahnmedizin und die Zahntechnik werden sich digital verändern. Standardisierte Verfahren werden stark zunehmen. “ Dies ist seiner Ansicht nach mit erheblichen Vorteilen für Zahnärzte und Zahntechniker gleichermassen verbunden: „Beide Seiten – Zahnarzt und Zahntechniker – werden in engerer Verknüpfung miteinander arbeiten. Der Zahntechniker bekommt mehr Möglichkeiten, den Patienten zu verstehen, zum Beispiel durch den Einsatz von Gesichtsscans. Der Teamgedanke zwischen den beiden Seiten wird wichtiger, damit sie noch patientenindividueller arbeiten können. Das wird die Zufriedenheit der Patienten noch steigern. Darüber hinaus werden sich Ästhetik und Funktion dank der digitalen Möglichkeiten noch besser in Einklang bringen lassen.“
Vorreiter in digitaler Zahnmedizin und Zahntechnik
Die Greifswalder Uni gilt schon seit Jahren als Vorreiterin der digitalen Zahnmedizin und Zahntechnik. Studenten können sich gezielt mit dem Thema CAD/CAM beschäftigen. Für fertige Zahnärzte gibt es einen postgraduierten, berufsbegleitenden Master-Studiengang „Clinical Dental CAD/CAM“. Zahntechniker haben die Möglichkeit, einen Master of Science (M.Sc.) „Digitale Dentaltechnologie“ zu erwerben.
Lesen Sie auch den Beitrag "Digitale Zahnmedizin: Wie virtuelle Kiefervermessung Prothetik effizienter macht" von Prof. Dr. Bernd Kordass im neuen Reflect-Magazin.